Sonntag, 11. Dezember 2011

Reader's Nauseant


[Obacht! Beitrag ohne Bilder]


Zum letzten Geburtstag schenkte meine liebe Tochter Emily mir einen Autoatlas. Ein gutes Kind! Nicht einen von der Firma ORAL oder SMELL; solche Spitzenprodukte kann das arme Wesen mit den paar Cent Taschengeld, von denen ich das meiste ohnehin für Reparaturen im Haushalt einbehalte, sich nicht leisten. Nein, einen einfachen 5-Euro-vom-Grabbeltisch-bei-Horten-Atlas, mit einigen Stadtplänen und Europakarten. Beilag eine rührende Karte des Inhalts "Lieber Herr Vater, möget Ihr immer heil und gesund aus der Fremde zurückkehren und mir etwas Schönes mitbringen".

Moral der Geschichte: TAMTAM und ähnliche sog. Navigationssoft- und hardwares kreuzen zwar gelegentlich meinen Weg, aber ich lasse sie gerne auf ihrer hyperbolischen Bahn durchs Elektronikall weiterziehen, vorbei an SATURN, away away and out of sight. Denn erstens kosten die Geld, zweitens machen sie Geräusche, die sie nicht sollen, drittens komme ich mir beim Befingern dieser buntbebilderten Minitablets vor wie ein Aff', und viertens: Gab der HErr in seiner Güte mir nit Augen, zu sehen und einen Mund, zu fragen, wo denn der Weihnachtsbaumverkauf mit Kornausschank in Sürwürderwurp oder auf dem Tütjenbarg genau stattfinde (3 Körner = 1,50 Euro, Baum ab 9,99 Euro).

Verstehen Sie mich bitte recht: Als 1/4-Schwabe väterlicherseits habe ich nichts gegen technische Neuerungen, im Gegenteil sogar eine gewisse Freude am Fortschritts-Schnickschnack, vor allem auf dem Gebiet der Fahrzeugtechnik, der Weiterentwicklung optischer Linsensysteme, die mich heute in die Lage versetzt, für ein paar Tausend Euro Fernrohre zu besitzen, bei deren Anblick William Herschel tot umgefallen wäre, der Speichermedien, Datenbanken usw. usf. Ich finde auch die Ebook-Reader und deren Ink-Display-Technik ästhetisch ganz interessant (Motorola hatte schon mal ein Handy mit derselben Technologie, unverächtlich), und wenn man beim Lesen der Tageszeitung noch DLF-Podcasts damit hören kann, warum nicht?

Es geht mir auch gar nicht so sehr um die Frage, ob der Ebook-Reader irgendwann das Buch als Massengeschmacksmedium verdrängen wird: Wenn ich heute manche moderne Buchhandlung betrete, sehe ich ohnehin kaum noch Produkte, die mit meinem Begriff von "Buch" korrelieren. Ob man den ganzen Galimathias als Ebook oder auf chinesischem Schaumstoffpapier mit gepolstertem Dampfeinband rezipiert, sollte da doch eigentlich egal sein. Die Linie zwischen den Normalmenschlein, die das Buch ohnehin nur als kulturelles Ornat oder aber Freizeitvertreib betrachten und den eigentlichen und wahrhaftigen Büchermenschen ist ohnehin schon lange gezogen und -obwohl selbstverständlich semipermeabel- durch einen Gutenberg's Wall von erheblichen Ausmassen befestigt - umso unbegreiflicher, daß selbst aus Kreisen von Buchhändlern und Antiquaren Äußerungen zu vernehmen sind, die in einem Ebook-Reader mehr sehen als eine prothetische Notlösung wie z.B. die Lektüre von PDFs auf einem Computer: Die Geräte seien praktisch und schööön, das Lesen sei angenehmer als das eines Buches, ganze Sammlungen seien nunmehr leichter zu handhaben usw.

Diese Anschauungen, entgegene ich, können nur von Menschen stammen, die noch nie wirklich die Tiefe und analoge Evidenz des Lebens mit Büchern erfahren haben, die noch nie den fein verästelten Mikrokosmos des Buches durchwanderten, deren Leben sich noch nie um Bücher, ihre physische Präsenz und die ästhetische Interferenz von Gestalt, Ausstattung und Inhalt bekümmert und angeordnet hat. Für denjenigen, der -sei es studienbedingt, sei es durch reine Sammelleidenschaft- durch Bücher, mit Büchern, in Büchern sozialisiert worden ist, der ohne das physische Umgebensein mit Büchern einen horror vacui empfindet, der in einer Art von mnemotechnisch-bildlicher Lebenswirklichkeit dem Buch, seinen raschelnden Seiten, satt oder flau gedruckten Buchstaben und primitiv-gelumbeckten oder aufwendig-handgearbeiteten Blöcken und Einbänden verhaftet ist und die Inhalte der Bücher kaum denken kann ohne assoziative Rückbindung an den physischen Gegenstand (das Buch!), für denjenigen ist allein die Idee einer Ablösung des Buches durch einen Reader eine lustige Vorstellung, ersonnen zur Schande der Wissenschaft...

Aber halt! Die Wissenschaft! Hier ist vielleicht sogar eine der Wurzeln des Übels zu sehen. Schon zur Zeit meines Studiums vor fast 20 Jahren war es bei den Professoren und Assistenten der Geisteswissenschaften durchaus unüblich, sich dort mit den Originalen abzugeben, wo man auf billige Nachdrucke oder Neuausgaben zurückgreifen konnte. Im Gegenteil galt es fast als verächtlich, sich der teuren Originalausgaben zu bemächtigen. Ich kenne Forscher, die über Barockliteratur promoviert haben, ohne jemals eine Edition des 18. Jahrhunderts in Händen gehalten zu haben. - Vielleicht ist dies sogar ein deutsches Spezifikum als Ausdruck eines zutiefst gebrochenen Verhältnisses zur eigenen Historie, vermengt mit jener Eierköpfigkeit der Elfenbeintürmer, die hierzulande allezeit... aber darüber an anderer Stelle später mehr!

Als ich meine erste Originalausgabe des 18. Jahrhunderts erwerben durfte, den Bethelehemitischen Kindermord des manieristischen Ritters Marino in der deutschen Übersetzung von Barthold Hinrich Brockes (3. Aufl. 1727) war mir unmittelbar klar, daß die berauschende Gegenwart des Bandes mit seiner speziellen Ästhetik, dem herausragenden, vergoldeten rosa Pergamenteinband, dem fremden Satzbild, den Holzschnittvignetten und dem gefalteten Kupfer Bernard Picarts zur Schächtung der Kinder, mein Leben verändern würde. Und tatsächlich hat sich nicht nur der Blick auf das Werk in den letzten 20 Jahren modifiziert: Vom bloßen Anstaunen teilweise unbegriffener gestalterischer Details über langsame Annäherung und einfühlendes Verständnis bis hin zur entwickelteren Urteilsfähigkeit, die den Kindermord zwar zu etwas Seriellerem, aber nicht weniger Wertvollem werden ließ, schulte sich der Blick, und parallel dazu wuchs eine Bibliothek, die weiß Gott nicht nur aus Alten Drucken, sondern auch aus vielen tausend Taschenbüchern und Leinenbänden besteht - ungeordnet, scheinbar wirr, aber jedes Stück als individuelle Fleischwerdung des Geistes (manchmal auch Ungeistes) an seinem Platz.

Denn auch für das dämliche, einfache, an und für sich grauenhafte Suhrkamp-Taschenbuch gilt, daß es einen, wenn auch beschränkteren, individuellen Ausdruck besitzt, und sei es nur dadurch, daß ich dieses Buch erwartungsvoll in meine Höhle geschleppt und dort grunzend durchgearbeitet habe. Ich verbinde in meinem Bildungs-, Lektüre- und Bücherkosmos mit der Seite 151 der Abhandlung Subjektivität von Joachim Ritter (Bibliothek Suhrkamp) einen ganzen Strauß von Assoziationen, die sich wiederum an weitere Werke meiner Bibliothek heften: Schon die Kapitel-Überschrift auf der vergilbten Seite strahlt verschiedene Ziele in meinen Bücherregalen an: Die Petrarcha-Ausgabe ganz oben links, die Abhandlung von Hans Blumenberg zum Buch der Natur (in Kniehöhe mittleres Regal Durchgang zum Koben), die Augustinus-Ausgabe aus der Reihe der Köselschen Kirchenväter, die über zwei Regalbretter teils in zweiter Reihe mäandert, etc. pp. - Die Rittersche Abhandlung, ein dünnes, unscheinbares, schlecht geklebtes Pappbändchen, kommt mir immer vor wie ein kompakter Akkumulator mit großem Effizienzgrad, virulent, für mich wichtig und auf vieles andere verweisend. Extrem verdichtete Materie, und als solche, als volllötiger phyischer Batzen, als Mega-Verweis, hat sie als Buch im Regal zu stehen und behauptet ihren eigenen Charakter, etwa gegen die beiden nahestehenden Sloterdijk-Bände Kritik der zynischen Vernunft (Edition Suhrkamp), denen etwas Harlekinartiges, Clowneskes anhaftet. Orange dröhnen sie mich voll; eigentlich müßte ein Halbseideneinband für sie gemacht werden. Daneben die 5 Bände Koschorke, seines Zeichens postmoderner Literaturwissenschaftler in Konstanz: Alle gleichformatig, wie aus dem Ei gepellt, mit Schutzumschlägen, stehen für die serielle Produktion des postanthropologischen Ganzganzanderen... komischerweise die ebenfalls absolut gleichförmigen Bände Hans Blumenbergs (Leinen mit weißen Schutzumschlägen) stehen gar nicht für das Immergleiche, sie sehen nur äußerlich gleich aus. Aufgeladen sind sie mit ganz divergenten, bunten Thesen und Inhalten und vor allem - meiner speziellen Lektüre, mit denen ich die Werke sozusagen markiert, zu repräsentativen Zeichen verwandelt habe.

Bücher sind (im Gegensatz zu bloßen Texten auf Readern... müssen wir über diesen Quatsch überhaupt noch reden?) neben den buchtechnischen und -geschichtlichen Besonderheiten ihrer materiellen Erscheinung rezeptionsästhetische Manifeste, und zwar einerseits des jeweiligen Rezipienten, andererseits einer ganzen Generation. Spricht man umsonst von einer Suhrkamp-Kultur, die für die intellektuelle Entwicklung der Nachkriegsgeneration steht? Betrete ich die 90er-Jahre-Bibliothek eines pfeifestauchenden, baskenmützentragenden Pfarrers grinst mich der Drewermann an und dräut der Theweleit allenthalben; von ganz hinten bultmännert es vielleicht noch verhalten. Stürze ich bei einem 80jährigen Altkatholiken über die zerfressene aschgraue Leinenausgabe des Lexikon für Theologie und Kirche in der 2. Auflage (für die 3. hat's wieder nicht gereicht, und für die blaue Halblederausgabe auch nicht!), und fallen mir aus der Speisekammer meines Psychoanalytikers 40 ungebundene Jahrgänge der Psyche entgegen (die Originaleinbanddecken lose beiliegend), dann weiß ich sofort, woran ich bin. Zeichen der Überwelt (R. Barthes), hypostasiert als Druckwerke in unserer Gegenwart und als solche maßgebend für kulturelle Praxis und Wirklichkeit. - Vor 100 Jahren waren die grau-schwarzen, aktenhaft schlichten Privateinbände der Altphilologen, die noch unsere Großväter quälten, wie der Bratenrock und dessen verstaubte Schöße überdeterminierte Zeichen, und Heinrich Mann mußte seinen Professor Unrat schreiben. - Bücher, und die aus ihnen bestehenden Bibliotheken, sind historische Manifestationen. - Wissen Sie, was Ebook-Reader sind? - Selbst die vergilbte, grottenschlechte Pawlak-Ausgabe von Jean Paul, die meine Mutter mir vor 30 Jahren für 1,- DM (reduziert von 2,95) aus der Stadt mitbrachte, bleibt als sinnliche Repräsentanz meiner Erstlektüre dieses Autors etwas ganz ungemein Köstliches und "Aufgeladenes": Lange müeze ich lesen dar inne, um all das Herauszulesen, was ich dort schon Hineingelesen habe!

Plädoyer für eine analoge Praxis des Anfassens, Bereichens, Reinmalens, auf-den-Büchern-Schlafens, Schleppens, Auftürmens... Kein TAMTAM: Verfahren Sie sich doch mal öfter! Es lohnt sich. Fragen Sie in einer schwäbischen Gaststätte um 23.00 Uhr mit breitem norddeutschem Akzent nach dem Weg, und hören Sie die Musik aus- und sehen Sie das Licht angehen: Es lohnt sich! Ebook-Reader: Zum Rumdaddeln, kein Problem. Für die Zeitung: Na, bitte schön. Für's wirklich Leben: Jamais! Und wer darin eine echte Alternative zu irgendwas sieht, dem sei zugerufen: Wenn Ihr's nit fühlt, Ihr werdet's nit erjagen! Nit! Hebet Euch hinweg, für die Bücherwelt seid Ihr verloren! Und laßt mir die braven Büchermenschen in Friede mit Eurem Sirenengesang. Es gibt auf dem antiquarischen Buchmarkt im Prinzip alles, was man sich wünschen kann, zu Preisen, die teilweise skandalös niedrig sind. Ei, wie köstlich ist das denn? You get the real things, browned and detached Suhrkamp-Paperbacks, stained throughout, in awfull condition... you will love them!

Ich möchte Ihnen noch abschließend ein Beispiel geben für den Verlust analoger Erfahrungen und Praktiken (Sloterdijk spräche von "ptolemäischen" Wirklichkeiten im Gegensatz zu "kopernikanischen": meinetwegen auch das!), aus einem Bereich, der Sie überraschen mag, der astronomischen Beobachtungspraxis.

Sie können heute, ich sagte es schon, für ein paar Euro sich Fernrohre kaufen, die noch vor 30 Jahren außerhalb der Reichweite selbst von semiprofessionellen Astronomen lagen. Wenn Sie so ein Gerät in sternklarer Nacht auf den Saturn richten und keinerlei Erfahrung mit der Praxis, ja der Kunst des astronomischen Beobachtens haben, sehen Sie allenfals eine Scheibe mit einem Ring, und auf der Scheibe ein, zwei Wolkenbänder. Das ist einigermassen enttäuschend angesichts der vielen tollen Buntfotos in Büchern und Zeitschriften, die Dutzende von Details zeigen. - Was macht der moderne Sterngucker? Er kauft sich eine möglichst rauscharme CCD-Kamera, eine synchronsierte Motorsteuerung und eine Bildbearbeitungssoftware, schießt innerhalb einer Viertelstunde ein paar Hundert Fotos, überlagert sie elektronisch, bearbeitet sie und hat ein tolles Computer-Bild eines Himmelskörpers, den er selbst nie wirklich gesehen hat, im warmen Wohnzimmer. Das ist das Falsche!

Das Richtige: Die Kälte draußen ertragen - Geduld haben - Warten, bis die Geräte sich der Umgebungstemperatur anpassen - Immer wieder mit wechselnden Winkeln und Focussen schauen, schauen und nochmal schauen - Die Lücken im Seeing ausnutzen - Sich der Transitivität des Blicks gewärtig sein - Den Blick neben das Objekt richten, die empfindlichen Stellen der eigenen Netzhaut kennenlernen - Kurz: Die Praxis pietatis lernen, die jedem Handwerk, jeder komplexeren Erfahrung zugrundeliegt. Wenn man dann zu vorgerückter Stunde für ein paar Sekunden nicht nur die Cassini-Teilung des Ringes, sondern -siehe, es war köstlich!- auch die viel unscheinbarere Encke-Teilung sehen, da, wo die Dicke des Ringes unter einem Kilometer liegt... dann fallen Sie zufrieden ins Bett und seufzen: Auch ich war in Arkadien!

Ich bin mir sicher, daß diese Parallele verstanden wird. - Lassen Sie sich nicht von den Technik-Surrogaten dessen berauben, was uns unverzichtbar und nötiger denn je ist: Die eigene, materiell-praktische Erfahrung im Umgang mit den Dingen der Wirklichkeit! Die Spannung des Gegenständlichen, die Widerständigkeit des (alten) Materials, die Tücke des Objekts! Aber auch dessen Geschmeidigkeit, Schönheit, Ergebenheit, deren füllhörnerner Reichtum.

Und den Ebook-Reader, den nehmen Sie sich, reiben ihn schön mit Buchfett ein und █████ ███ ███ █ █ █████ , und zwar ████████ █████!! Von wegen gut handzuhaben! Dann werden Sie sehen, wie
█████ █████████████ ██████████

[ZENSUR]

Totaler Zusammenbruch des Systems

Verfasser auf der Flucht - Rückkehr ungewiß

Montag, 7. November 2011

Die Altonaer Büchertage III


Silbern klingt und springt die Heuer, heut' speel ick dat feine Oos, heute, da ist mir nischt zu teuer, morgen geht scha die Reise los... sang dereinst schon Hans Albers, und wie leicht dieser unschuldige Liedtext sich auf die Altonaer Büchertage übertragen lässt geht schon daraus hervor, daß die kleine Verkaufsveranstaltung überbucht war und potente süddeutsche Handelslöwen trotz hoher Schmiergeldangebote von den unbestechlichen Veranstaltern abgelehnt worden waren zugunsten der einheimischen Antiquariatsfauna, deren letztes öffentliches Erblühen in diesem Jahr nicht nur den warmen Novembertagen zuzuschreiben ist.

Zu Beginn der Veranstaltung sprachen alle Aussteller ein Gebet für die Teilnehmer der parallel stattfindenden Wattenscheider Büchertage, wohl wissend, daß diese allerhöchsten Segens bedurften, alldieweil in Altona die gebratenen Tauben bereits vor der Glasfront des Altonaer Museums kreisten und nur darauf warteten, in die geöffneten Antiquarsmünder hineinzuschnellen. In ihrer Andacht wurden die frommen Händler nur durch das Schnarchen jenes sibirischen Urians unterbrochen, der sich -offenbar unter falschem Namen- erneut die Teilnahme an den Büchertagen erschlichen hatte. Um den Sibirier, dessen Bestand noch furchterregender daherkam als in den beiden Vorjahren ("Gäpolstärtä Einbände von Taim Laif gut fir langä Reisä": auch keine Entschuldigung!), ruhigzustellen, projizierte man von Seiten des Museums direkt neben seinem Stand einen Schwarzweißfilm aus Ostfriesland an die Wand, und tatsächlich war der Mann aus der Eisweite durch die bewegten Bilder nicht wenig bewegt und nahm das Dauerkino als geldwerten Vorteil klaglos hin, von den verdienten Kollegen Olaf Adler, Christian Höflich und Renate Lempart selbstlos mit Keksen, Kaffee und Marzipan gefüttert. Das von ihm in einem alten Ölfaß entfachte Feuer zum traditionellen Räuchern des mitgebrachten Seehundsspecks löschte er allerdings erst, als der mitveranstaltende Antiquar Meinhard Knigge ihm ein wertvolles Buch zur Geschichte der Sonnenbeobachtung schenkte - ein Himmelskörper, der den Mann aus den Weiten der Taiga wohl deswegen besonders interessierte, weil er seiner nur höchst selten angesichtig wird.



Sibirischer Händler mit falsch applizierter Brille, versehentlich (?)
auf Stuhl des Kollegen Knigge (angesichts dessen Bestandes?) einge-
schlafen, trotz guten Zuredens des Kollegen nicht aufwachen wollend.


Am Samstag hub der Handel sturmflutartig an, verebbte aber auch ebenso schnell wieder. Nicht alle der Beteiligten konnten das schmale Zeitfenster nutzen, um ihre Schäflein ins Trockene resp. ihre Bücher an den Mann bzw. die Frau zu bringen. Da die Veranstaltung nicht im unmittelbarer Nähe zu Weihnachten stattfand, war der vorweihnachtlich-konsumatorische Reflex vielleicht hier und da etwas gehemmt; allerdings zog der in einem Nebengelaß stattfindende Backwettbewerb Bestes Franzbrötchen in Hamburg eine große Schar von Besuchern an, deren körperliche Sättigung durch Mitnahmeeffekte im Non-Franzbrötchen-Bereich (Bücher) abgerundet wurde. Auch hier sorgte der Sibirier wieder für Unruhe, indem er sich unter die Franzbrötchentester mischte, alle 22 verschlungenen Brötchen für "die besten" erklärte und nur durch die mit eindeutigen Posen begleiteten Lockrufe der Kollegin Kaun (Eckert & Kaun, Bremen), es gäbe vor dem Museum umsonst etwas zu rauchen, abgezogen werden konnte - mit dem charmanten Nebeneffekt, endlich Umsätze an seinem Stand zu verzeichnen, da sich das Publikum nun herantraute (das Geld sammelte dankenswerterweise Herr Dr. Lölke, Antiquariat Atlas, ein, der sich als promovierter Philosoph auf so etwas excellent versteht).


Einer der zahlreichen Altäre im Templum Salomonis,
in diesem Falle errichtet von der Kollegin Marion Kaun, Bremen.


Insgesamt zeigte sich bei den Ausstellern eine Tendenz, neben vielen wertvollen und seltenen Büchern auch eine Anzahl preisgünstiger Titel aus dem Varia-Bereich mitzubringen. Ist dies eine Konsequenz der Erfahrungen der ersten beiden Büchertage, die gezeigt haben, daß die Hürde für die Kaufentscheidung seitens der Kundschaft doch niedriger liegt, als es sich die professionell mit hochpreisigen Büchern täglich Befaßten vorgestellt haben? - In jedem Falle ist es einmal eine gute und lehrreiche Erfahrung, sich aktiv einem zwar interessierten, aber nicht immer buchaffinen Publikum und dessen Vorstellungen und Wünschen zu stellen, auch wenn das Ergebnis dieser empirischen Untersuchung gelegentlich enttäuschend sein mag. Auch würde eine Umfrage unter den Händlern durchaus ganz Verschiedenens ergeben: Während die Einen mehrere Verkäufe im dreistelligen Bereich verzeichnen können und das Anbieten billiger Ware für einen kardinalen Fehler halten, gelingt Anderen (trotz angemessen ausgepreisten, ordentlichen Buchmaterials) kein Verkauf über 40 Euro. Hier ist aber nun der Spekulation Tür und Tor geöffnet: Liegt's an der Physiognomie des Anbieters, der Präsentation der Bücher, liegt's an der Gesamtmischung? Der Position des Verkaufsstandes? Dem Chronos, dem Kairos?


Bücher von 5 bis 5000 Euro.
Erste zum Kaufen, letzte zum Bestaunen?


Existiert gar ein elektrisches Fluidum, welches, von der Sonne erwärmt, frei durch den Raum flottierend, plötzlich ohne erkennbaren Grund hier und da seine segenreiche Wirkung entfaltet? Um später dann seine Kraft zu verlieren? Auf daß der verzweifelte Kunde, sich die Haare raufend, zuhause gar nicht mehr begreift, was er mit dem wasserrandigen und zerfledderten Kinderbuch, der Brockhaus-Enzyklopädie von 1920, in der nur ein Band fehlt, und dem Sammelbildalbum Deutscher
Wald ohne Sammelbilder eigentlich anfangen soll, die er unter dem Einfluß des Antiquariats-Äthers erworben hat? Wir werden's wohl nie erfahren. - Ewiglich aber singen nicht nur die Wälder und wahrscheinlich auch die Wale, wenn man sie ließe, ewiglich währet auch eine alte indigene Spruchweisheit aus dem Trans-Ural: Tscheijld schnudkow lo'm obl'm'mbowskoij' 'm' da sprödlwaschwaschwah. Na, also!


Der Blick unter's Bett belegt: Nach wie vor gibt es
im Hamburger Bahnhofsviertel Hotelbetriebe,
die ein Herz für Haustiere haben.


Der Sonntagmorgen war von einer geradezu postkoitalen, schleppenden Depressivität gekennzeichnet, obwohl wahrscheinlich nur wenige der Aussteller im
eigentlichen Sinne koital vorbelastet waren. Auch ist dies Privatsache und soll hier nicht weiter interessieren. Der Sibirier, der erstmals in seinem Leben von den Veranstaltern in einem Hotel untergebracht worden war (die Übernachtung unter dem Tisch war wegen einer museumsinternen Veranstaltung diesmal nicht möglich), berichtete von unhaltbaren Zuständen, enormen Ratten mit roten Augen, gegen die die hoteleigenen Fledermäuse kaum angekommen seien, tollkühn-schmorenden Verkabelungen über zersprungenen Wachbecken und vielem anderem mehr. Die ganze Nacht habe er sich damit beschäftigt, mit den erschlagenen Wanzen überlieferte Flechtmuster auf dem Kopfkissen zu legen. 25 Euro incl. Frühstück seien für diese Belustigungen eindeutig nicht zu viel gewesen. In dieser beseelten Stimmung wendete sich der Unhold sofort an die graue Eminenz des Hamburger Handels, den Kollegen Pankow vom alteingesessenen Antiquariat Pabel, und verlangte die Herausgabe eines seltenen Reimarus-Traktats. Nur der jahrzehntelangen Erfahrung Gottwald Pankows ist es zu verdanken, daß diese Transaktion zur Zufriedenheit aller abgeschlossen werden konnte, obwohl das freche ursprüngliche sibirische Gebot für das Büchlein (2 Fässer ungeräucherten und auch wohl schon etwas ranzigen Seehundsspecks) streng zurückgewiesen werden mußte.


Ökonomisch teilweise inkommensurabel:
Der große Hamburger Gelehrte J.A.H. Reimarus
und bepelzt herumtollende polare Speckrollen.


Der Sonntag war insgesamt schon noch etwas schleppender als der Samstag, aber auch hier gab es Zufriedene und Unzufriedene. Der unbeirrbar aufstrebende Kollege Tautenhahn aus Lübeck gehörte ganz entschieden zu den Ersten. Von den Erlösen seiner im guten Gebrauchtbereich angesiedelten und moderat ausgepreisten Werke konnte er sich ein frühes Büchlein über per Autopsie nicht-nachweisbare Gifte und ihre Herstellung kaufen - angesichts der Konkurrenzsituation in der holsteinischen Hansestadt, die durch ihre große Antiquariatsdichte auffällt, eine sinnvolle und nachhaltige Investition für den nächsten Kollegenstammtisch. Achten Sie in den nächsten Wochen auf die regionale Presse!


Der Antiquariatshandel dient auch pädagogischen Zwecken:
"Und wenn Ihr nicht ordentlich lernen wollt, dann
müßt Ihr später alte Bücher verkaufen..."
Zustimmender Blick der Kollegin Lempart (rechts).


Nachdem es am frühen Nachmittag noch einen kleinen Höhepunkt beim Besucheransturm gab, leerten sich ab 15.00 Uhr dann doch die Reihen ganz erheblich. Nur der nimmermüde Kollege Knöll (Lüneburg - Moderne Literatur, Signierte Ausgaben usw.) verschwand immer wieder mit hochrotem Kopf auf der Herrentoilette. Die Nachfrage der besorgten Veranstalter, ob ihm nicht wohl sei, verneinte er glaubhaft; allerdings käme er mit dem Signieren kaum nach. Eine charmante Aktualisierung der böhmisch-mystischen Auffassung der signatura rerum, die einen Günther Grass erst durch eine Signatur lesbar (und verkäuflich) werden läßt.

Für einen unschönen Abschluß der Veranstaltung sorgte wiederum der Sibirier, der den Aufzug des Museums als zuvor noch nie gesehenes Wunder der Technik übermässig benutzte. Von dem mutigen und durchtrainierten Kollegen Stechern (Antiquariat Halkyone - Altona) darauf hingewiesen, sein notorisches Übergewicht auf diesem Wege bestimmt nicht reduzieren zu können, gab der Zottelbärtige an, ein solches Gerät für seine Jurte erwerben zu wollen, da er von den endlosen Jagden über Schnee und Eis und den Kämpfen mit den Polarbären am Abend immer geschwächt sei. Als der Jakute dann noch aus Langeweile anfing, Manessebändchen der Kollegen mit seiner Harpune an die Mahagonitüren des Museums zu heften, konnte er ein drohendes Hausverbot nur dadurch verhindern, daß er seine Jagdwaffen dem Museum als ethnologische Exponate für lau überließ. Schlau sind sie ja, diese Naturburschen, nur schrecklich unzuvilisiert.


Fachliches und sportliches Vorbild mit Zivilcourage:
Detlef Gerd Stechern auf einsamer Wacht.


Am Abend sammelte man noch gemeinschaftlich Geld für die Teilnehmer der Wattenscheider Büchertage, denn der Hanseat ist traditionell nicht nur elbphilharmonisch, sondern auch wohltätig. Dann stob man auseinander wie die Goldene Horde beim Anblick des Timur. Zweifellos wird es nächstes Jahr wieder Antiquarische Büchertage geben - vielleicht im Dezember, wenn die Vorweihnachtszeit die Stimmung aller Beteiligter befeuert, und mit noch mehr Ausstellern, falls der vom Museum zur Verfügung gestellte Platz es zuläßt?


So komplikationsreich war die Rückreise nicht
für alle Teilnehmer der Altonaer Büchertage;
Kollege Knigge beispielsweise bediente sich eines Taxis.


Montag, 24. Oktober 2011

Altonaer Büchertage die Dritte


Liebe Leserinnen und Leser,

zum wiederholten Male treffen sich 20 Antiquarinnen und Antiquare norddeutscher Herkunft als Scharwerker des Geistes (statt vielmehr des Geldes, aber hierzu gibt es unterschiedliche Auffassungen) in den Hallen des Altonaer Museum, um ihre mit Büchern gefüllten Fässer von den galizischen Eselskarren, levanthinischen Goéletten und sibirischen Hundeschlitten zu laden und mit der neugierigen Besucherschar ein verspätetes Erntedankfest des bedruckten Papiers zu feiern.

Die Liste der teilnehmenden Kollegen liest sich wie der Homerische Schiffskatalog, und alte, wettergegerbte Recken, ja Helden des Gewerbes wie Hans "Albers" Hünteler, Reinhold und Lucy Pabel und Rolf Salchow richten ihre wasserblauen Augen fürsorglich-liebevoll auf den fröhlich herumtollenden Nachwuchs und dessen Bücherhäufchen...

Doch bevor Sie noch weitere geschmacklose Metaphern ertragen müssen machen Sie sich lieber selbst ein Bild und besuchen die Antiquarischen Büchertage im Altonaer Museum:

05. und 06. November 2011 im Altonaer Museum, Museumstraße 23, 10-18 Uhr. Eintritt 3,00 Euro, Kinder & Jugendliche frei, Hunde & Schadinsekten das Doppelte.

www.altonaer-buechertage.de

You'll get the real thing!


Freitag, 20. Mai 2011

Hanseatischer Antiquariatstag


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Buchfreunde und Sammler, unerwartet und
überraschend, aber nicht unwillkommen, rief die Messeveranstalterin Frauke Luckwaldt nach der Absage der diesjährigen Antiquariatsmesse Quod Libet heute zu einer Beteiligung an einem Hanseatischen Antiquariatstag auf, welcher für den 25. September 2011 von 10-18 Uhr in der Säulenhalle des Hotels Reichshof Maritim (gegenüber dem Hauptbahnhof) stattfinden soll - gesetzt den Fall, es finden sich 25 teilnehmende Aussteller, denen dieses neu konzipierte Ausstellungsmodell zusagt. In den Teilnahmekosten von 285,00 Euro (zuzügl. Mehrwertsteuer) sind enthalten:
  • 4 Tische à 120 x 45 cm (also etwas über 2 qm Ausstellungsfläche)
  • Anzeigen in der Fachpresse
  • Anforderung von Einladungen/ Werbematerial in beliebiger Anzahl
  • Versand von Einladungen an Händler u. Sammler in Deutschland (2000 Adressen)
  • Pressearbeit
  • Information und Ausstellerverzeichnis auf www.luckwaldtmessen.de
  • Information und Einladung per e-mail an Antiquariate und Sammler

Es muß die Anmeldung bis zum 05. Juni 2011 via Email, Telefon, Fax oder Brief erfolgen. Da der Saal im voraus zu bezahlen ist, wird die erste Hälfte des Teilnahmebeitrags im voraus erhoben. Nachfragen richten Sie bitte direkt an die Veranstalterin:

Luckwaldt Messen,
Brüchhorststraße 34, 24641 Sievershütten
Tel. 04194-8101, Fax 04194-636
, frauke@luckwaldt.de

Unseres Erachtens ist diese kurze, unkompliziert angesetzte und trotzdem gut beworbene schlanke Veranstaltung eine sinnvolle Möglichkeit, mit einem begrenzten Einsatz und minimierten ökonomischen Risiko die Potentiale der bibliophilen Sammlerschicht in Hamburg anzusprechen und auch mit niedrigpreisigeren (was nicht bedeutet: weniger qualitätvollen) Büchern kostendeckend bzw. wirtschaftlich erfolgreich aufzutreten - mit der Option, auch wertvollere Stücke verkaufen zu können.

Wir wünschen dem Hanseatischen Antiquariatstag (den wir übrigens auch nicht als Konkurrenz, sondern belebende Ergänzung zu den Ende des Jahres stattfindenden Altonaer Büchertagen sehen) viel Erfolg!

Danke für Ihr Interesse, Ihr OW Plocher


Donnerstag, 12. Mai 2011

Buchempfehlung: Handbuch Buchverschluss und Buchbeschlag


Liebe Kollegen, Buchfreunde und Sammler,

ich möchte Sie kurz auf ein Buch aus der Feder eines gelehrten Autodidakten hinweisen, welches in grundlegender Weise ein Feld der historischen Buchwissenschaft begeht und beschreibt, dessen Flora bislang noch nicht systematisch bestimmt war. Es handelt sich um das Handbuch Buchverschluss und Buchbeschlag von Georg Adler, erschienen im Ludwig Reichert Verlag in Wiesbaden. Der reichhaltig farbig bebilderte Quartband umfasst 241 Seiten und kostet 98,00 Euro. Zur Verlagsseite des Reichert-Verlags geht es HIER, dann am besten über Autorensuche gehen.

[Alle Bilder zum Vergrößern bitte Anklicken, zurück zum Text mit dem BACK-Button]


Der Autor hat sich das hohe Ziel gesteckt, eine systematische Erfassung, Taxonomie und Beschreibung / Benennung der hauptsächlich metallischen Buchschließen und –beschläge „im deutschsprachigen Raum, den Niederlanden und Italien vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart“ vorzunehmen. Der erste Teil ist den verschiedenen Arten der Buchverschlüsse und –beschläge in Übersichtsform gewidmet; dabei wird zugleich eine neue Klassifikation und Terminologie entwickelt. Im zweiten Teil werden die verschiedenen Formen der Verschlüsse und Beschläge den jeweiligen historischen Epochen ihres Vorkommens zugeordnet (8.-20. Jahrhundert; auch moderne Buchkunsteinbände finden Berücksichtigung). Von besonderem Wert ist der dritte Teil, der aus Anhängen mit tabellarischen Kompilationen besteht. In diesem Teil wird die Anwendung der Differentialdiagnosen des ersten Teils auf die konkrete Bestimmung und Beschreibung von Einbänden angewendet; ferner finden sich bebilderte Tabellen mit allen Verschluß- und Beschlagsformen, eine Dokumentation verlorener und beschädigter Verschluß- und Beschlagsteile (für die Praxis des Antiquars von besonderem Wert; hat man doch beständig mit Defekten zu tun und steht auch manches Mal vor restauratorischen Fragen) und vor allem eine mehrseitige Begriffs-Konkordanz, die die ausdifferenzierte neue Terminologie des Verfassers mit den bisher in der Fachliteratur
verwendeten Bezeichnungen abgleicht und zugleich -wie großartig ist das denn?‑ Übersetzungen ins Niederländische, Englische, Französische und Italienische liefert.

Allein die eigene Terminologie, in der die zahlreichen Varianten der Buchverschlüsse und Beschlagsformen beschrieben wird, eröffnet ein wunderbares neues sprachliches Feld, ähnlich wie der Fachjargon älterer Handwerke. Statt jedes Stück Holz in der subtilen Konstruktion eines alten Daches summarisch als Balken bezeichnen zu müssen, unterscheidet der Fachmann ja auch die Sparren vom Rähm, die Abseitenstiele von den Hahnenbalken und die Kopfbänder von den Fußpfetten. Ebenso gliedert sich ein einfacher Ösenverschluß in Dorn, Dorn-Lager, Öse, Riemen, Gegenblech und Scharnierplatte. Neben dem Ösenverschluß existieren Binde-, Wickel-, Knopf-Wickel-, Schleifen-, Aufsteck-, Kappen-, Haken- und Schnappverschlüsse, Stiftriegelverschlüsse, Schnallen- und Einschiebeverschlüsse. Zugleich werden die neuen Bezeichnungen mit den herkömmlichen Begriffen abgeglichen. Hier findet sich allerdings auch diese und jene Lücke: Merkwürdigerweise fehlt im ganzen Buch nach erster Durchsicht der Hinweis auf einen Kopert-Einband, bei dem das Buch ja in flexibles Pergament gewissermassen eingewickelt und dann mit einem (Haken-)Verschluß gesichert wird. Diese spezielle Verschlussart wird unter dem Begriffsmonster Haken-Klappenverschluß mit dem Lager auf der Fläche des Buchdeckels als Sonderform der Ganzmetallschließe bezeichnet – wohl wahr, aber ein Hinweis auf das bekannte Schlagwort Kopert wäre angebracht gewesen.

Soviel aber zur kleinlichen Kritik. – Das Werk wird mit einigen Registern und Verzeichnissen abgerundet: Ein Verzeichnis der Buchbinder, Klausurenmacher und Silberschmiede, einer ausführlichen Bibliographie, einem örtlichen Bestandsverzeichnis der auf über 750 Farbfotos dokumentierten Objekte und einem ausführlichen Sachregister. Einige der dokumentierten Schließen und Beschläge sind signiert oder so originell geformt, dass sie sich tatsächlich regional oder sogar persönlich zuordnen lassen. Der Antiquar wird in den meisten Fällen mit einfachen Standardverschlüssen konfrontiert sein. Mithilfe des Handbuchs wird aber der Blick des Buchbearbeiters für die entscheidenden Feinheiten der Metallarbeit geschärft, so daß vieles, was bislang rätselhaft oder unerkannt geblieben ist, nun Hinweise geben kann.

Auf den beiden unteren Fotos ein Beispiel aus unserem Bestand, eine einfache Standardschließe der Reformationszeit. Interessanterweise ist der Schnitt des Folio-Holzdeckelbandes noch beschriftet, für ein Werk aus der Mitte des 16. Jahrhunderts nicht mehr alltäglich (Albert Krantz: Saxonia. Erste deutschsprachige Ausgabe. Leipzig 1563). Der Reformatoreneinband möglicherweise aus Wittenberg; bei der Schließe handelt es sich um einen Hakenverschluß mit einem Stiftlager auf dem Buchdeckelrand als Riemenschließe, Schließrichtung hinten (Typus BV.3.1.1.; Riemenschließe deswegen, weil der Haken an einem flexiblen Stück Pergament befestigt ist, das zugleich Scharnierfunktion übernimmt). Mazal (1997) bezeichnet diesen Schließentypus noch als Lederschließe mit Metallbeschlag oder einfach Lederscharnier. Das Pergamentriemchen ist mittels eines einfachen, dreifach genagelten Gegenblechs auf dem Vorderdeckel befestigt und unter den Deckenbezug eingelassen. Auf dem Haken selbst erkennt man gravierte Rhombenmuster und eine recht grobe palmettenförmige, mit Strichbündeln verzierte Ausbildung des Fußes. Das Material ist nicht sehr stark, worauf die Biegung des Hakenblechs schon hindeutet.



Und so ist auch die zweite Schließe, genauer gesagt: das Stiftlager, an der schwächsten Stelle abgebrochen. Interessanterweise ist oft nicht das Pergamentriemchen die schwächste Stelle (möglicherwese wegen dessen Flexibilität), sondern das Messingblech. Restauratorisch gesehen ist der Austausch des Stiftlagers ohne weiteres möglich, da einige Hersteller auch heute noch ganz ähnlich gearbeitete Lager anbieten. - Ich hoffe den Band trotzdem verkaufen zu können, möchte Sie aber abschließend noch einmal gerne zum Erwerb des Handbuchs Buchverschluss und Buchbeschlag animieren: Es lohnt sich!


Vielen Dank für Ihr Interesse, Ihr Otto W. Plocher


Samstag, 1. Januar 2011

Meine guten Vorsätze


will ich Ihnen gerne zeigen, liebe Leser: Einmal diesen schönen strudelmarmorierten Vorsatz vom Anfang des 18. Jahrhunderts mit schlichtem gedruckten Exlibris:



Und dann noch diesen guten Brokatpapier-Vorsatz, aus dem Jahre 1692:

Naja, ich habe noch viele weitere gute Vorsätze, aber die zeige ich Ihnen ein andermal bzw. vielleicht erscheint dieses Jahr ja tatsächlich einmal ein Katalog, und da sind die dann drin.

Ja, Herrschaften, glaubt's ihr denn tatsächlich, daß ein Mann mit einer dermassen wüsten und komplexen ("ambivalenten", G. Polt) Vita wie Schreiber dieser Zeilen im Leben auch nur noch den geringsten Vorsatz fassen würde? Etwa, das Rauchen aufzugeben (hoho), 25 Kilogramm abzunehmen (hihi) oder beim Zeitunglesen nicht mehr auf der Standspur zu überholen? Tröööt? Nein, wird er nicht.

Einen wirklich sehr sehr guten Vorsatz habe ich noch auf der Blog-Seite Kulturpixel.de gefunden, die überhaupt einmal zur Lektüre empfohlen sei. Da hat der Herr Bernd-Ingo Friedrich etwas Gutes geschaffen. - Den Vorsatz bilde ich hier einmal ganz ohne Genehmigung ab; beim Anklicken kommen Sie zum dazugehörigen Artikel und erfahren auch gleich noch, was die Herrnhuter -für gute Vorsätze ja notorisch sogar in Form von täglichen Losungen zuständig- so alles trieben.

Wenn ich jemals einen solchen Vorsatz mit aufgeflanschtem Exlibris erstehen kann, dann schenke ich ihn der Kollegin Renate Lempart in Hamburg (die einige ähnliche herzige Objekte, vor allem der Biedermeierzeit, in ihrem Besitz hat und auch verkauft). - Das ist doch nun einmal ein wirklich guter Vorsatz für das Jahr 2011, für das ich Ihnen und Ihren Lieben alles Gute, viel Erfolg und Gesundheit wünsche!

Danke für Ihr Interesse, Ihr Otto W. Plocher

Dienstag, 21. Dezember 2010

Sehnsucht


heißt das alte Lied der Taiga, das schon damals meine Mut-tär sang, bzw. Alexandra; und Ivan Rebroff wußte noch etwas präziser: Es steht 1 Soldat am Wolgastrand, aber das würde an dieser Stelle etwas zu weit und auch in die falsche Richtung führen. Letztlich nur eine Variation der Arno Schmidtschen Erkenntnis: Das Verläßlichste sind Naturschönheiten. Dann Bücher. Dann Braten mit Sauerkraut.

Wie aber ist es, fragt sich der Sibirische Beobachter [einziger rechtmässiger Nachfolger von Johann Andreas Cramers Nordischem Aufseher], mit diesen dreien bestellt? Nun: An Naturschönheiten hat er in seiner engeren Umgebung keinen Mangel. Die leicht beschneiten Hügelketten Nowaja Semljas, die eisige Wasserfurt der Matoschkin Schar, der Jadebusen, die Lüneburger Heide, der Elm-Lappwald, die Wildeshauer Geest, Ostfrieslands endlose Weiten, da ist wunne vil! lange müeze er leben dar inne. Braten mit Sauerkraut gibt's auch in Hülle
und Fülle, einwandfrei, dazu Grünkohl mit Speck & Pinkelwurst, Haferbrei mit Ei, Labskaus, Brägenwurst, Blutballen, Grütze und rote Beete, Steckrüben & Stampfkartoffeln, hernach Buchweizenpfannkuchen mit schwarzem Sirup, hmm, hmmmm! Wrschn! Nur beim Thema Bücher, ei ja, da rutscht der Beobachter doch etwas unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Wie verläßlich sind die denn?

Der Sibirische Beobachter, neben seinem statisch und ästhetisch
bedenklichen Stand unruhig auf dem Stuhle hin und her rutschend


Zweifellos gehörten die Altonaer Büchertage (Gott weiß, wieviel Dank den Veranstaltern und dem Altonaer Museum, selbst im Daseinskampf [Schopenhauer!] begriffen, zu sagen wäre) zu den athmosphärisch wundersam-getragenen, schlechthin einfach guten, wahren & schönen Veranstaltungen,
bei denen die Verläßlichkeit des Buches sich manifestieren müßte. Und siehe: Ein kulturell interessiertes, nicht zu junges, nicht zu altes, entspanntes und gutgelauntes Publikum adventierte im Altonaer Museum und traf auf eine nicht zu junge, nicht zu alte, entspannte und gutgelaunte Händlerschar, die Bücher von 2,00 bis 5000,00 Euro in schönen Arrangements anbot, gemäß Nehemia 13,16: Sie brachten Bücher und allerlei Ware und verkauften sie, nicht aber nach Offenbarung 18,11: Und die Kaufleute auf Erden werden weinen und Leid tragen um sie, weil ihre Bücher niemand mehr kaufen wird. - So.

Und tatsächlich konnte der Beobachter beobachten, wie hier und da etwas bestaunt, hier und da etwas gekauft wurde, sogar an seinem eigenen, schlichten, unmaßgeblichen Stand, den er schnell zum Ärger der sehr auf die Qualität der Darbietung achtenden Organisatoren aus alten Pappkartons hingezimmert hatte - daran änderte auch dessen Umpositionierung und die Isolierung von anderen Ausstellenden nichts, um die wohl namentlich der Kieler Handel, der Erfahrungen des letzten Jahres eingedenk, dringend gebeten hatte.

Ehem. Kieler Seemann, den Stand bewachend, sich dabei an
die endlosen nächtlichen Bordwachen seiner Jugend erinnernd


Als nach Ablauf des ersten Tages der Vorhang im Tempel fiel und nicht
zerriß, war dem Beobachter dies ein Zeichen, daß die Umsätze des ersten Tages zwar als voller Pachterlös des Feldes der Auferstehung, klopstockisch zu sprechen, nicht ganz ausreichen würden; indes war man zufrieden und zog sich mit vielen anderen Ausstellern in ein Lokal zurück, in dem es Schnitzel und Schwarzbier gab, dem der Beobachter über alle Maßen zusprach und mit nunmehr gelockerter Zunge die Damenwelt einerseits über sein wüstes und sinnloses Leben der letzten Jahrzehnte aufklärte, gegenüber einem Mitorganisator der Büchertage, seines Zeichens Technikantiquar in Hamburg, andererseits aber den Fehler beging einzugestehen, eines seiner älteren und wertvollen Werke nicht eingehend collationiert, sondern (Zitat) nur so durchgeratscht zu haben, wird schon stimmen, hö!, was ihm den Zorn der vereinigten Heerscharen in Gestalt eines GIAQ-Vorstandsmitglieds eintrug, das extra aus Südniedersachsen angereist war, um für Recht und Ordnung zu sorgen und das hohe Niveau der Veranstaltung zu untermauern.

Kollege D. stand stellvertretend für ordo naturalis
und Disziplin angesichts zerfallender Werte


Während sich der Technikantiquar und sein Mitstreiter genossenschaftlich auf den Standpunkt versteiften, daß vom ewigen Gesetze des Antiquariatsbuchhandels auch nicht ein Buchstabe vergehen dürfe (cf. Matthäus 5,18), konterte der Beobachter, sich mühevoll am Glase festklammernd, das sei zwar alles schön und gut, vor der grauhosig-marktfernen Praxis des Collationierens müsse aber das gemeinsame Ziel stehen, das Publikum durch Vorzeigen auch eventuell nicht ganz bearbeiteter Stücke zu begeistern und in den Bann des alten Buches zu schlagen - ob das Colophon im Satz etwas verrutscht sei oder der Kupferstich eines Rhomboiden nur zur Hälfte vorhanden, sei dagegen zweitrangig, obwohl natürlich zu erwähnen. - Man einigte sich wie immer gütlich, und der Beobachter floh auf seinem Hundeschlitten in Richtung Hammerbrook, wo er sich Linderung durch eine kalte Dusche, ein Fuder Heu und ein Glas Brackwasser erhoffte, denn er hatte keinen Raum in einer besser gelegenen Herberge. Die besten Argumente fielen dem Beobachter wie immer erst im Nachhein ein. Zum Beispiel, daß ein Drogenhändler den Stoff beim Kauf ja auch in jedem Falle selbst prüft, statt auf die Collation des Verkäufers sich zu verlassen...

Am nächsten Tage traf der Beobachter, aufgekratzt durch die schlaflose Nacht im 24-Stunden-Stadtteil Hammerbrook, frühzeitig im Museum ein. Zuvor war es ihm noch gelungen, mit den Brötchen, die man ihm dort bei einem frugalen Frühstück serviert hatte, zwei Fensterscheiben der Hotellobby einzuwerfen, was ihn milde stimmte und ihn die laufende Stimmensammlung der Kollegen zum Ausschluß seiner Person von weiteren Veranstaltungen übersehen ließ.


Altgedienter Altonaer Händler, dem Sibirischen Beobachter
einen aufgeräumt-appetitlichen Stand präsentierend


Leider war der zweite Tag der kleinen Messe nicht annähernd so gut besucht wie der erste; zumal an wirklichen und wahrhafftigen Sammlernaturen, die am ersten Tage immerhin sich, wenn auch nicht ihre Geldbörsen, geschweige denn deren Inhalte, gezeigt hatten, fehlte es. Die Umsätze schraubten und schleppten sich in Zeitlupe auf einen Pegelstand, der dem des in ewiger Austrocknung befindlichen Aralsees gleichkam. Zudem mußte, unbemerkt von den Ausstellern, über Nacht eine große Teuerung die Hansestadt erschüttert haben, denn allenthalben war lautes Klagen und Preisdrücken zu vernehmen, gemäß Lukas 4,25: Eine große Teuerung war im ganzen Lande. Die tapferen Besucher der Büchertage waren aber trotz des vollständigen Verfalls ihrer Gelder noch fest entschlossen, die Antiquare zu unterstützen, wenngleich diese auch große Abschläge machen mußten. Der Beobachter beobachtete nicht ohne Rührung, wie ein alter Mann sich weinend an ein 2-Euro-Stück klammerte, während seine Frau ihm zuzischte: Unser letztes Geld für die Ketowweln... nu' gib's ihm schon! Da mußte der Beobachter, sonst ganz unbewegter Beweger, mit Thränen im Auge natürlich das kleine Konvolut Manesse-Lederbändchen herausrücken oder gar ein Inselbuch mit Bindings Opfergang - das mit Abstand gesuchteste Buch der Messe.

Mitarbeiter des Altonaer Ordnungsamtes,
dem erstaunten Beobachter einen Abbaubefehl
für dessen verwahrlosten Stand überreichend

Der stockende Besucherstrom ließ dem
Beobachter Zeit, vor dem Museum einige Crêpes in sich hineinzuschlingen (Hmm! Hmmmm! Wrschn!), zu rauchen oder sich an den Ständen der Kollegen herumzudrücken. Es waren dort wirklich sehr schöne und gute Bücher zu vernünftigen, eher moderaten Preisen zu besichtigen. Daß es nicht immer beim Besichtigen blieb, dafür bürgte die Gier des Beobachters nach neuem Material - außerdem muß die neue Zweigstelle auf Jan Mayen gefüllt werden; das nächste Kreuzfahrtschiff hat sich schon angemeldet. Die Diskrepanz zwischen der eigenen Kauflust und der einiger Aussteller zu jener des allgemeinen Publikums beobachtete der Beobachter mit Argwohn, und er fragte sich insgeheim, wie hoch wohl der Anteil des Kollegenhandels an den Umsätzen insgesamt sei. Bei ihm selbst waren es über 50%; bedenklich auch, daß davon ein nicht geringer Teil auf Nonbooks entfiel - so etwa auf den Abverkauf der bronzenen Hausgöttin des Beobachters, einer Statue, die nur zu Dekorationszwecken mitgeführt worden war. Der Teufel und ein Lüneburger Kollege wissen, wo diese antike Schönheit jetzt ihre Ziegen hütet! Das zweite Nonbook, der Nachguß eines phrenologischen Schädels, war bereits am ersten Tag erfolgreich verkauft - an einen klugen und bekannten Bücherliebhaber.

Nach Kassensturz des zweiten Tages stellte sich beim Beobachter zwar jenes wohlige Völlegefühl ein, dessen wir in dieser traurigen Zeit alle so dringend bedürfen; jedoch lag das teuerste Werk, das ein Privatkäufer erwarb, bei 22 Euro, und nur die relative Vielzahl der Verkäufe ergab ein gutes Gesamtergebnis.

Was den Beobachter zu folgenden Reflexionen führt:

- Darf man wirklich daran glauben, daß die Altonaer Büchertage zur kleinen norddeutschen Leistungsschau werden könnten, also eine Wirkung entfalten, die über das bloße, faktische Hier, heute und jetzt einer zufällig angesetzten Verkaufsveranstaltung hinauszuweisen imstande ist?

- Läßt sich bei Intensivierung der Werbemaßnahmen auf einen anwachsenden Bekanntheitsgrad der Büchertage und eine wesentliche Intensivierung des Publikuminteresses hoffen? Ist es nicht vielmehr sogar so, daß die möglichen Potentiale bereits ausgeschöpft sind und der Bonus eines guten Neuanfangs auf Dauer entfällt, wie man es von einigen kleinen Antiquitätenmessen kennt, die für ihren Fortbestand aktiv kämpfen müssen?

- Geht die Idee, durch das Angebot an qualitätvollen, aber damit eben auch nicht billigen Büchern ein bislang eher buchfernes, aber neugieriges Publikum für die Bibliophilie zu begeistern, denn wirklich auf, oder handelt es sich dabei um reines Wunschdenken angesichts der tatsächlichen Verkäufe?

- Wenn man die Werte der mitgebrachten Ware mit dem Erlös vergleicht: Werden nicht andere Konsequenzen drängender als die Frage, ob man den Qualitätsstandard der ausgestellten Ware halten soll? Gerade angesichts der Tatsache, daß Bücher bis ca. 20 Euro offenbar leicht und gerne gekauft werden und die Erlöse der meisten Kollegen einem guten Wochenendumsatz eines MA-Händlers entsprechen, der vielleicht kein einziges Buch über 10 Euro bewegt hat?

- Ist der Qualitätsanspruch der Büchertage, der die Organisatoren bewegt, nicht eventuell eine Art Trompe-l'oeil-Gemälde? Gemalt in einer Stadt, in der die höhere Buchkultur nun einmal einfach nicht mehr zu etablieren ist, weil man sich anderen Projekten widmet? Und als Trompe-l'oeil-Gemälde vielleicht sogar ökonomisch sinnvollere, weniger anspruchsvolle Modelle verhindert?

Mit diesen kritischen Fragen will der Sibirische Beobachter, der sich nach Publikation dieser Beobachtungen ans Lagerfeuer zu weihnachtlichem Otterbraten und Schamanentrommel zurückzieht, mehr provozieren als infragestellen. Der Beobachter findet es nur fast ein bißchen unverständlich, von gestandenen Kollegen begeisterte Ausrufe zu vernehmen, deren Umsätze -es sei einmal gesagt- im mittleren dreistelligen Bereich lagen. Ökonomisch ist das unhaltbar, und wie weit der Idealismus trägt? Antworten hat er als Beobachter ebensowenig zu geben wie als Händler; aber ist an einem realistischen Blick aufs Ganze interessiert.

Und da es dem Beobachter immer weniger ums Geldzählen als ums Bücherwälzen ging, wird er auch auf den nächsten Altonaer Büchertagen -wenn er noch darf- mit breiter Brust stehen und Bücher aus sechs Jahrhunderten zum Kauf anbieten, denn der Tor macht viele Worte, aber der Mensch weiß nicht, was sein wird (Prediger 10,14).


Danke für Ihr Interesse, Ihr Otto W. Plocher

Dienstag, 7. Dezember 2010

Sie nahen wieder,


die Altonaer Büchertage! NOCH schöner, NOCH grösser, NOCH unglaublicher als im Vorjahr. Die Veranstalter dieser kleinen, aber
erstaunlichen Veranstaltung haben weder Kosten noch Mühen gescheut, Händler aus allen Teilen Hamburgs, Bremens, Niedersachsens, Schleswig-Holsteins und Sibiriens für das faszinierende Spektakel zu gewinnen! Dank sei den Herrn Meinhard Knigge, Dr. Ulrich Lölke, Hans Joachim Hünteler, Christian Höflich sowie der Dame Jutta Hünteler für die Organisation - freuen wir uns auf ein reges, vorweihnachtliches Treiben und Bücherjagen: Tally-hó!


Wenn Sie auf die Graphik klicken und nach unten scrollen, können Sie die teilnehmenden Antiquariate und ihre Sachgebiete näher kennenlernen. Unsere dort angegebenen Spezialgebiete: Literatur & Geistesgeschichte, söne Bücher des 16. bis 19. Jahrhunderts - wobei "söne" Bücher nicht etwa italienisierend à la "Is e söne Buche - Musse Du kaufe - make gute Preise!" zu verstehen ist, sondern niederdeutsch "söne" = "seine" (possesiv); soll heißen: Seine Bücher des 16.-19. Jahrhunderts... also nichts Geliehenes, Unbezahltes oder anderweitig in den Besitzverhältnissen Zweifelhaftes, wie es wohl sonst gelegentlich vorkommen mag.

Also: Bis zum Wochenende!

Ihr Otto W. Plocher

Samstag, 4. Dezember 2010

Bemerkungen zu Helmar Pardun / RF Meyer


Ein kurzer Kommentar zu den Ausführungen des SOLO-Antiquars (so selbstgenannt) Helmer Parduns in dessen Blog unter dem Titel
"Neue Diskussion im 'Zeichen' der Zeit, der zugleich eine Antwort auf RF Meyers Beitrag Il faut cultiver notre jardin ist. - Cultiver notre jardin: und das im Winter! Kollege Meyer, man merkt doch gleich, daß Sie nicht vom Lande stammen und noch nie den salzigen Schweiß der Gerechten auf die heimische Krume tropfen sahen!


Nun aber mein Kommentar, der für das Kommentarfeld unter Helmer Parduns Aufsatz etwas zu lang war:


Lieber Herr Pardun,

das mit der "richtigen" Kommunikation ist so eine Sache, zumal wenn sie als Antagonismus zum Festhalten an "einem System mit alten Signaturen" sich versteht. Ich muß da sofort an den unsäglich verkürzten Kommunikatiosnbegriff von J. Habermas denken, der durch dessen frühere Schriften zur Psychotherapie und Hermeneutik geistert: Der Therapeut erklärt dem kranken Patienten dessen spezifische Art von Fehlkommunikation / Fehlverständnis und bringt durch diese Korrektur Gesundung via kommunikativen Konsenses. Sie sehen leicht die Gefahren dieser neuen Kommunikationsform, die an die Stelle alter Signaturen autoritativ und unbegründet etwas setzen könnte, was wir alle noch viel weniger wollen, z.B. (nur EIN Beispiel) die Auflösung des "Zeichensammenhanges" Alten Buches, indem man es zum Objekt einer Art neuer Eventkultur umdefiniert. Die alten Signaturen aufzugeben hieße in diesem Sinne, das Objekt der Begierde in einem Wertschöpfungspossenspiel und -tempel zu vermauern.

Wenn man die "richtige" Kommunikationsweise nicht so radikal deutet, wie ich das gehässigerweise eben getan habe, bliebe allerdings noch etwas anderes übrig, von dem ich aber meine, das es schön längst stattfindet: Viele Kollegen, die mit "besserer", vulgo antiquarischer Ware handelt, betreuen einen gewissen Kreis von Stammkunden, der einen hohen Aufwand an Kommunikation erfordert, bereits sehr erfolgreich. Manche Kollegen halten Lesungen und Vorträge (sogar vor Landfrauen in der Lüneburger Heide, die sich rotgesichtig-rustikal auf manches Literarisch-Buchkundliche einlassen, was den traditionellen Antiquar erstaunen würde) und verbinden das mit einer Art kultureller Leuchtturmfunktion. Hausbesuche gehören mit zum Repertoire, Arbeit in Kulturvereinen usw. - Ich darf Ihnen verraten, daß meine besten Kunden keineswegs aus dem Bildungsbürgertum stammen, sondern zunächst recht buchfern waren und sich auf den Erwerb Alter Drucke teilweise nur deswegen einließen, weil sie ausführlich dabei von mir beraten und auch inhaltlich "geführt" worden sind. Dazu gehört etwa auch die "Bauaufsicht" beim Einrichten einer Bibliothek mit Möbeln und Accessoires - man kann darüber lachen; wenn man mit den Kollegen abends sich unterhält, hört man eine Vielzahl solcher Geschichten, von denen man glaubte, sie seien nur einem selbst passiert. Viele Kunden, die begeistert später kaufen, konnten sich zu Beginn ihrer Sammlerlaufbahn gar nicht vorstellen, daß man 400 Jahre alter Bücher überhaupt habhaft werden könne - ich weiß nicht, wie oft ich in diesem Zusammenhang über den Film "Der Name der Rose" debattiert habe und den Interessenten zeigen konnte, daß die Welt alter Klöster und Schlösser ihnen nicht gänzlich verborgen bleiben müsse. Gerade die klischeehafte Überformung verlangt aber die Rückbesinnung und Rückführung auf die "Alten Signaturen", um nicht zur Walt-Disney-Welt zu verkommen.

Fazit: Kommunikation und Kundeneinbindung findet in vielen Fällen im Handel (wenn auch nicht sehr öffentlich) bereits statt; und sie steht nicht im Gegensatz zur "alten Signaturenlehre", sondern ergänzt diese in pragmatischer Hinsicht. Nur darf es nie so weit gehen, die heiligsten Dinge auf niedrigen Opferaltären zur Unkenntlichkeit zu zerreiben, wie's wohl oft genug im Handel geschehen mag (ich könnte da einiges...!...!?!!....!!!!!)

Beste Grüße Ihr OW Plocher

Samstag, 20. November 2010

Liebling,

bring die Katzen ins Bett, mach die Vorhänge zu und das Schummerlicht an: Heute abend wird bibliographiert!

war allezeit mein Motto und hat vielleicht dazu geführt, daß ich die Katzen inzwischen alleine ins Bett bringen muß. Aber was soll's? Hauptsache bibliographieren, und unter die Buchaufnahmen opake Zeichenfolgen setzen, die einen ganz eigenen ästhetischem Reiz beinhalten: Nicht bei Cioranescu, aber Vercruysse 1776, 3A! Ah, prallt da nicht rumänisch-transsylvanische Grausamkeit ("nicht bei" = vernichtet, gepfählt, zerstückelt, für immer verloren) auf französisch-libertäre Bourgeoisie (1776, 3A = Reihenhausnummer für gefallene Materialisten à la Holbach). - Oh, was für Gewitter an Assoziationen lassen sich aus dem mageren Angaben der Bibliographen, ihren absurd-abbreviatorischen Zeichenfolgen ziehen! Immer, wenn mein lieber Kollege Andreas Müller die Trumpfkarte zieht: Sinkankas 7282, dann werfe ich mich schnell hinter die Ofenbank, denn unter Sinkankas habe ich mir nie etwas anderes vorstellen können als einen mit Kupferarmbändern und -Ohrringen behängten, schwarzhaarig-gluderäugigen malayischen Piraten, der barfüssig-schnellfingerig über die Schleppleine an Bord klettert, das blitzende Entermesser im zahnlosen Mund. Wenn zu Sinkankas noch Landwehr hinzutritt, eventuell sogar Landwehr 1, dann sei Gott unserer aller Seelen gnädig. Kann nur noch aufgehalten werden durch Sparrow... - Wie, Käpt'n Sparrow, den verfluchten karibischen Dauerpiraten? Ih wo, Sparrow: Milestones of Science, p. 10ff.

Das mag ja gerade noch einmal gut gegangen sein, aber was macht man bei Tchemerzine IV, 377, zumal in Verbindung mit der Lagernummer 14064, die der wiederum gnadenlose Cioranescu vergeben hat? Da helfen nur noch Gay/Lemonnier, aber denkste: Nicht bei Gay/L. I, 38f., und zwar genau an dieser Stelle eben nicht, sapperlot. Und wir Zitternden wissen, daß wir die überaus seltene Heptameron-Ausgabe von 1559 vor uns haben, die uns zügig 16.000 Euro kosten kann, Adams M 563. - BM STC 301. - Brunet III 1415 f.

Fromm marschiert gegen Hayn/Gotendorf auf, Schulte-Strathaus bringt Goedeke in arge Bedrängnis; manchmal aber auch nicht zu verachten: Brieger! - Fürstenberg dräut gleich mehrfach, und wenn Weller, Quérard und Holzmann/Bohatta zusammen einen saufen gehen, sollten sie den Eymer nicht vergessen...

Halt, Stop! Was soll der Unsinn? Ist der Antiquar mittlerweile denn völlig gagá? Mitnichten, liebe Leser, er ist nur schwerstens angeregt durch eine Artikelserie des sich selbst so nennenden Solo-Antiquars Helmer Pardun: Jargon im Antiquariat, zu lesen in drei Teilen auf dessen Blog, mit einem abschließenden Interview des unvermeidlichen R.F. Meyer, der hier einmal mehr seine buchkundlichen Muskeln spielen läßt.

Insgesamt ist gegen die kritisch hinterfragenden Ausführungen Parduns nicht allzu viel und gegen die klärenden Worte R.F. Meyers noch weniger zu sagen. Pardun wirft ein kritisches Licht auf die herkömmliche Praxis des Zitierens bibliographischen Materials, aber auch auf die Praxis, dunkle Quellen durch ungeprüftes und unkenntliches Weiterzitieren noch mehr zu verdunkeln, und fragt nicht ganz zu Unrecht, ob der heutige Antiquariatskunde diese Praxis umstandslos goutiere und nicht vielmehr vor einem undurchdringlichen Dickicht von Apokryphen stehe, deren Auflösung ihn ermüde und langweile. Blackmer Bircher Borchling/Claussen.


Wörtlich zitiere ich die Fragestellung Parduns:

Bei der sorgfältigen Durchsicht einiger analoger und digitaler Antiquariats-Kataloge aus den letzen Jahrzehnten, vor allem von solchen neueren, die mir von Antiquaren im Gespräch empfohlen wurden, sind mir vielfältige bibliographische Verweise aufgefallen, die ich im Moment des Lesens weder auflösen noch verifizieren konnte.

Was wird mit solcher Verwendung nicht aufgelöster, nicht relationaler und nicht verlinkter bibliographischer Bezüge bezweckt?


Nun hat R.F. Meyer schon auf diese Frage im 3. Teil der Artikelserie geantwortet und es liegt mir fern, eine weiterführende Betrachtung über Sinn und Zweck der bibliographischen Arbeit zu geben, die unser täglicher Brot sein muß, wollen wir Vollständigkeit, Rang und Editionsgeschichte der von uns angebotenen Werke korrekt bestimmen (Woher weiß ich, daß Langsdorffs Salzwerkskunde aus maßgeblichen 5 Teilen besteht, wenn notorisch nur Exemplare mit 4 Teilen auftauchen und recht vollständig wirken? Wie die komplexe Editionsgeschichte des Rousseauschen Du contract sociale entschlüsseln, bei dem mehrere Drucke als Anwärter auf die erste Ausgabe infrage kommen?).

Ich möchte nur eine Bemerkung anfügen, die mir persönlich wichtig ist: Es ist eine der auffälligsten und übelsten gesellschaftlichen Krankheiten, daß die natürliche Neugier und der menschliche Forschungsdrang offenbar dem Anspruch gewichen sind, alles Dargebrachte sofort verstehen und unmittelbar erschließen zu können. Nicht nur das Mittagessen muß conveniencehäppchenweise serviert werden, auch geistige Nahrung soll anscheinend maulfertig offeriert werden, um genießbar zu sein. Widerstände bei der Rezeption sind unerwünscht und werden (statt mit gesund-neugierigem Erschließungs- und Überwindungswillen) mit Protestgeschrei quittiert. Hier rät der Antiquar (i.d. Falle ICH): Klappe halten, Bleistift spitzen, auf den Mors setzen und sich das Unverstandene erarbeiten.

Was meinen Sie, wie wütend ich zum ersten Mal war, als ich Anmerkungen wie DSB IX, 73 gelesen habe oder Hinweisen wie Mus. Cats 47 beziehungsweise Borba de Moraes II, 487 nachgehen mußte? In Vorinternetzeiten, wohlgemerkt. Hatte ich die betreffenden Hinweise dann (mithilfe von Kollegen, Bibliothekskatalogen oder dem Bestermann) herausgebracht: Siehe, dann habe ich sie mir in eine selbst entworfene Liste eingetragen, die alle für mich wichtigen Bibliographien enthält und mittlerweile auf ca. 60 Seiten angeschwollen ist. Und jeden Tag weiter anschwillt. Ebert Einaudi Eisler Engelmann.

Das, lieber Herr Pardun, erwarte ich mehr oder weniger von jedem Christenmenschen, der sich ernsthaft mit Büchern auseinandersetzt. Für die Anderen, seien es Spaß- oder Gelegenheitskäufer, Gebrauchtbuchhändler oder Valetschmauser, spielen die bibliographischen Anmerkungen doch ohnehin keine große Rolle. - Ich selbst bemühe mich übrigens zunehmend, die Angaben nicht allzu apokryph zu gestalten und schreibe lieber Hohenemser: Flugschriften Sammlung G. Freytag statt nur Hohenemser, wenn der Platz es erlaubt. Muß aber eigentlich nicht sein: Kultur ist (da teile ich einmal mehr die Meinung des großen Arno) nicht zuletzt Arbeit: Erschließung, Auslegung, Aneignung, am Schreibtisch, still auf dem Hintern sitzend, robbt man sich vorwärts bergan. Und kugelt nicht rückwärts bergab auf ein Mega-Luftkissen, in dem die heiße Luft gesammelt ist, mit der heute vielfach geblasen und trompetet wird (nicht auf Sie gemünzt).

Und seht, noch kündige ich ein Geheimnis an: Im Anhang zu den Auktionskatalogen der Firma Ketterer in Hamburg findet sich jedes Mal eine sehrsehr lange Liste der bibliographisch wichtigsten Bücher mit ihren Kürzeln; ich glaube sogar, man kann diese Liste auf der Homepage des Auktionshauses anschauen; ansonsten besorge man sich einen alten Katalog des Hauses (nur zum Durch-Schnüffeln keinen neuen: Die leben nämlich vom Verkauf Ihrer Bücher und nicht vom Rausreißen der Bibliographienliste aus ihren Katalogen). Am Montag ist dort wieder Auktion - ich freue mich jetzt schon!

In diesem Sinne: Lanckoronska/Oehler Lipperheide Lonchamps Lowndes!

Gestützt auf den Goedeke zur Rechten (der Conring: Lexikon der Buchwissenschaft, jüngst erworben, ist leider noch nicht eingetroffen; links also nackt!).

Hochachungsvoll!

Ihr Otto W. Plocher