Samstag, 20. November 2010

Liebling,

bring die Katzen ins Bett, mach die Vorhänge zu und das Schummerlicht an: Heute abend wird bibliographiert!

war allezeit mein Motto und hat vielleicht dazu geführt, daß ich die Katzen inzwischen alleine ins Bett bringen muß. Aber was soll's? Hauptsache bibliographieren, und unter die Buchaufnahmen opake Zeichenfolgen setzen, die einen ganz eigenen ästhetischem Reiz beinhalten: Nicht bei Cioranescu, aber Vercruysse 1776, 3A! Ah, prallt da nicht rumänisch-transsylvanische Grausamkeit ("nicht bei" = vernichtet, gepfählt, zerstückelt, für immer verloren) auf französisch-libertäre Bourgeoisie (1776, 3A = Reihenhausnummer für gefallene Materialisten à la Holbach). - Oh, was für Gewitter an Assoziationen lassen sich aus dem mageren Angaben der Bibliographen, ihren absurd-abbreviatorischen Zeichenfolgen ziehen! Immer, wenn mein lieber Kollege Andreas Müller die Trumpfkarte zieht: Sinkankas 7282, dann werfe ich mich schnell hinter die Ofenbank, denn unter Sinkankas habe ich mir nie etwas anderes vorstellen können als einen mit Kupferarmbändern und -Ohrringen behängten, schwarzhaarig-gluderäugigen malayischen Piraten, der barfüssig-schnellfingerig über die Schleppleine an Bord klettert, das blitzende Entermesser im zahnlosen Mund. Wenn zu Sinkankas noch Landwehr hinzutritt, eventuell sogar Landwehr 1, dann sei Gott unserer aller Seelen gnädig. Kann nur noch aufgehalten werden durch Sparrow... - Wie, Käpt'n Sparrow, den verfluchten karibischen Dauerpiraten? Ih wo, Sparrow: Milestones of Science, p. 10ff.

Das mag ja gerade noch einmal gut gegangen sein, aber was macht man bei Tchemerzine IV, 377, zumal in Verbindung mit der Lagernummer 14064, die der wiederum gnadenlose Cioranescu vergeben hat? Da helfen nur noch Gay/Lemonnier, aber denkste: Nicht bei Gay/L. I, 38f., und zwar genau an dieser Stelle eben nicht, sapperlot. Und wir Zitternden wissen, daß wir die überaus seltene Heptameron-Ausgabe von 1559 vor uns haben, die uns zügig 16.000 Euro kosten kann, Adams M 563. - BM STC 301. - Brunet III 1415 f.

Fromm marschiert gegen Hayn/Gotendorf auf, Schulte-Strathaus bringt Goedeke in arge Bedrängnis; manchmal aber auch nicht zu verachten: Brieger! - Fürstenberg dräut gleich mehrfach, und wenn Weller, Quérard und Holzmann/Bohatta zusammen einen saufen gehen, sollten sie den Eymer nicht vergessen...

Halt, Stop! Was soll der Unsinn? Ist der Antiquar mittlerweile denn völlig gagá? Mitnichten, liebe Leser, er ist nur schwerstens angeregt durch eine Artikelserie des sich selbst so nennenden Solo-Antiquars Helmer Pardun: Jargon im Antiquariat, zu lesen in drei Teilen auf dessen Blog, mit einem abschließenden Interview des unvermeidlichen R.F. Meyer, der hier einmal mehr seine buchkundlichen Muskeln spielen läßt.

Insgesamt ist gegen die kritisch hinterfragenden Ausführungen Parduns nicht allzu viel und gegen die klärenden Worte R.F. Meyers noch weniger zu sagen. Pardun wirft ein kritisches Licht auf die herkömmliche Praxis des Zitierens bibliographischen Materials, aber auch auf die Praxis, dunkle Quellen durch ungeprüftes und unkenntliches Weiterzitieren noch mehr zu verdunkeln, und fragt nicht ganz zu Unrecht, ob der heutige Antiquariatskunde diese Praxis umstandslos goutiere und nicht vielmehr vor einem undurchdringlichen Dickicht von Apokryphen stehe, deren Auflösung ihn ermüde und langweile. Blackmer Bircher Borchling/Claussen.


Wörtlich zitiere ich die Fragestellung Parduns:

Bei der sorgfältigen Durchsicht einiger analoger und digitaler Antiquariats-Kataloge aus den letzen Jahrzehnten, vor allem von solchen neueren, die mir von Antiquaren im Gespräch empfohlen wurden, sind mir vielfältige bibliographische Verweise aufgefallen, die ich im Moment des Lesens weder auflösen noch verifizieren konnte.

Was wird mit solcher Verwendung nicht aufgelöster, nicht relationaler und nicht verlinkter bibliographischer Bezüge bezweckt?


Nun hat R.F. Meyer schon auf diese Frage im 3. Teil der Artikelserie geantwortet und es liegt mir fern, eine weiterführende Betrachtung über Sinn und Zweck der bibliographischen Arbeit zu geben, die unser täglicher Brot sein muß, wollen wir Vollständigkeit, Rang und Editionsgeschichte der von uns angebotenen Werke korrekt bestimmen (Woher weiß ich, daß Langsdorffs Salzwerkskunde aus maßgeblichen 5 Teilen besteht, wenn notorisch nur Exemplare mit 4 Teilen auftauchen und recht vollständig wirken? Wie die komplexe Editionsgeschichte des Rousseauschen Du contract sociale entschlüsseln, bei dem mehrere Drucke als Anwärter auf die erste Ausgabe infrage kommen?).

Ich möchte nur eine Bemerkung anfügen, die mir persönlich wichtig ist: Es ist eine der auffälligsten und übelsten gesellschaftlichen Krankheiten, daß die natürliche Neugier und der menschliche Forschungsdrang offenbar dem Anspruch gewichen sind, alles Dargebrachte sofort verstehen und unmittelbar erschließen zu können. Nicht nur das Mittagessen muß conveniencehäppchenweise serviert werden, auch geistige Nahrung soll anscheinend maulfertig offeriert werden, um genießbar zu sein. Widerstände bei der Rezeption sind unerwünscht und werden (statt mit gesund-neugierigem Erschließungs- und Überwindungswillen) mit Protestgeschrei quittiert. Hier rät der Antiquar (i.d. Falle ICH): Klappe halten, Bleistift spitzen, auf den Mors setzen und sich das Unverstandene erarbeiten.

Was meinen Sie, wie wütend ich zum ersten Mal war, als ich Anmerkungen wie DSB IX, 73 gelesen habe oder Hinweisen wie Mus. Cats 47 beziehungsweise Borba de Moraes II, 487 nachgehen mußte? In Vorinternetzeiten, wohlgemerkt. Hatte ich die betreffenden Hinweise dann (mithilfe von Kollegen, Bibliothekskatalogen oder dem Bestermann) herausgebracht: Siehe, dann habe ich sie mir in eine selbst entworfene Liste eingetragen, die alle für mich wichtigen Bibliographien enthält und mittlerweile auf ca. 60 Seiten angeschwollen ist. Und jeden Tag weiter anschwillt. Ebert Einaudi Eisler Engelmann.

Das, lieber Herr Pardun, erwarte ich mehr oder weniger von jedem Christenmenschen, der sich ernsthaft mit Büchern auseinandersetzt. Für die Anderen, seien es Spaß- oder Gelegenheitskäufer, Gebrauchtbuchhändler oder Valetschmauser, spielen die bibliographischen Anmerkungen doch ohnehin keine große Rolle. - Ich selbst bemühe mich übrigens zunehmend, die Angaben nicht allzu apokryph zu gestalten und schreibe lieber Hohenemser: Flugschriften Sammlung G. Freytag statt nur Hohenemser, wenn der Platz es erlaubt. Muß aber eigentlich nicht sein: Kultur ist (da teile ich einmal mehr die Meinung des großen Arno) nicht zuletzt Arbeit: Erschließung, Auslegung, Aneignung, am Schreibtisch, still auf dem Hintern sitzend, robbt man sich vorwärts bergan. Und kugelt nicht rückwärts bergab auf ein Mega-Luftkissen, in dem die heiße Luft gesammelt ist, mit der heute vielfach geblasen und trompetet wird (nicht auf Sie gemünzt).

Und seht, noch kündige ich ein Geheimnis an: Im Anhang zu den Auktionskatalogen der Firma Ketterer in Hamburg findet sich jedes Mal eine sehrsehr lange Liste der bibliographisch wichtigsten Bücher mit ihren Kürzeln; ich glaube sogar, man kann diese Liste auf der Homepage des Auktionshauses anschauen; ansonsten besorge man sich einen alten Katalog des Hauses (nur zum Durch-Schnüffeln keinen neuen: Die leben nämlich vom Verkauf Ihrer Bücher und nicht vom Rausreißen der Bibliographienliste aus ihren Katalogen). Am Montag ist dort wieder Auktion - ich freue mich jetzt schon!

In diesem Sinne: Lanckoronska/Oehler Lipperheide Lonchamps Lowndes!

Gestützt auf den Goedeke zur Rechten (der Conring: Lexikon der Buchwissenschaft, jüngst erworben, ist leider noch nicht eingetroffen; links also nackt!).

Hochachungsvoll!

Ihr Otto W. Plocher

1 Kommentar:

  1. Werter Kollege,

    wie Recht Sie doch haben. Was habe ich zu Beginn meiner Tätigkeit unverständig auf die Angebote der Kollegen gesehen, wusste ich doch nicht einmal mit dem Kürzel WG etwas anzufangen. Jenne, ja das sagte mir als Sammler etwas, war ich doch stolz einige Bände der Insel-Bücherei zu besitzen, in deren Vorsatz ich mit Blei vermerkte "Nicht bei Jenne!". Heute gebe ich jährlich einen Betrag für Bibliographien aus, für den ich vor 5 Jahren nicht einmal ein Automobil erworben hätte. Und manches habe ich gekauft, weil ich dachte, ich hätte Verwendung dafür: Hayn/Gotendorf (habe aber keine Erotica), Graesse (hatte ich zum Bibliographieren des Astronomicons erworben), Hagen (besitze keine Erstausgaben Goethes und werde vermutlich in der ostfriesischen Einöde auch keine erwerben). Einzig und allein im Gebrauch sind: Kästner, Jenne, WG, Tielke, Seelmann und Nachfolger, vereinzelt Wegehaupt und Der kleine Muck. Und für 90 Kochbücher habe ich den Weiss angeschafft. Und auch heute noch bin ich mir nicht sicher, was der geneigte zvab-Käufer damit anfangen kann. Ich fürchte: 95% können nichts damit anfangen. Gleiches gilt übrigens auch für den Radtke, der nun eindrucksvoll in vielen Jahrgängen hinter meinem Tresen steht...
    Vielleicht sehen wir uns Montag bei Ketterer - ich plane, auf die Kochbücher-Konvolute zu bieten, damit auch ich einmal schreiben kann "Nicht bei Weiss"...

    Seien Sie mir gegrüßt und lassen Sie mich auch nochmal meinen Dank ausdrücken für die vielen kollegialen Tipps, die ich bislang von Ihnen als "altem Hasen" erhalten durfte.

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