Montag, 15. November 2010

Was Du nicht erbtest von den Vätern...


[Vorbemerkung: Ausarbeitung eines nächtlichen Fiebertraums, nachdem Verf.

dieser Zeilen 4 Tage in überheizten und -füllten Münchner Auktionssälen

mit durchaus geringem Erfolg zugebracht hat und mit Erstaunen

die Divergenz zwischen gezahlten Preisen und täglicher

Antiquariats-Wirklichkeit wieder einmal erfahren mußte...]



Vorhang auf. Ein englischer Bibliothekssaal in einem alten Schloß. Tadellos-klischeehafte Einrichtung: Dunkle Mahagonimöbel, rote schwere Vorhänge, dicke Teppiche, wandhohe Regale mit Folianten und aufwendig vergoldeten Buchrücken, Portraitbüsten auf volutenreichen Säulen, schwere Fauteuils und lederbezogene Tische auf Messingrollen. Vor dem lodernden Kamin ein besonders pompöser Sessel, darinnen im dicken Hausrock mit Pantoffeln der Schoßherr, Lord P***, ehemals Vorsitzender der Vereinigung britischer Antiquare, heute ausschließlich Privatier, Sammler und Wohner. Zu seinen Füßen ein großer, getigerter Kater. Der gewichtige Schlossherr macht einen schwerhörig-apoplektischen Eindruck, ist aber für sein Äußeres recht gewandt.


Schlossherr (an einer Samttroddel zerrend): „Jóhann! Jo-Hánn!“


Ein spindeldürrer, sehr distinguierter und wehrhafter Diener mit Adlernase und Schlafzimmerblick erscheint.


Johann: „Mylord haben geläutet?“

Lord P***: „Zum Kuckuck, Johann, wo bleibt denn der neue Bibliothekar? Ist wohl schon Dreiviertel Neun durch. Seit die Amsterdamer Standuhr diese Feuchtigkeitsrisse hat, weiß ich gar nicht mehr, welche Tageszeit wir haben!“

Johann (zu sich): „Im ganzen Schloß funktioniert nur ein Lokus, und der gnä’ Herr rufen nach dem Bibliothekar…“

Lord P*** (rotgesichtig): „Ha!?“

Johann (laut): „Mylord dürfen sich nicht aufregen, das ist für das Podagra äußerst förderlich, hat Doktor Bickerstaff extra gesagt…“

Lord P*** (erinnert sich und räkelt sich schmerzvoll): „Auuu! Uuuuah! Johann! Mir ist so komisch. Einer der Yorkshire-Puddings muß schlecht gewesen sein, oder die geschmorten Nierchen…“

Johann (füllt ein Glas routiniert mit einer schweren Flüssigkeit): „Hier, Mylord, nehmen Sie einen Schluck!“

Lord P*** (hastig trinkend): „Börps!“

Johann (väterlich): „Na?“

Lord P*** (entschlossen): „Jetzt rauchen!“


Ein untersetzter Mann mittleren Alters mit gelichtetem schwarz-lockigem Haupthaar, Hornbrille, Backenbart und viel zu weiter Jeanshose, entfernt an Danny de Vito erinnernd, betritt dienernd die Bibliothek.


Lord P*** (das Menschlein aus glasigen Augen musternd): „Ein Mamelukk?“

Menschlein: „Der Bibliothekar!“ – Tritt vor und überreicht einen verschlossenen Umschlag. „Vollquard Griepenhausen mein Name, Mylord! Empfehlungsschreiben von Lord Carlssohn, Schloß Eckernförde, Mylord!“

Lord P*** (verzieht das Gesicht): „Carlssohn – Der alte Seeräuber! Hat außer zerlesenen Südseeabenteuern & ein paar Metern Landeskunde doch nischt uff der Pfanne! Was hat Er denn da den ganzen Tag gemacht? Kaperbriefe von links nach rechts geräumt?“

Der Bibliothekar ungerührt: „Zuvor war ich noch bei Lord Purszynski, Esq., auf Unmoral Castle in Schwading beschäftigt, wenn’s beliebt…“

Lord P*** (fasst sich ans Herz): „Beliebt… beliebt…“

Johann (zischelnd von hinten): „Erwähnen Sie doch diesen Namen nicht! Hat man die ganze Sammlung nicht längst konfisziert? All diese Nerciats und Hancarvilles! Schwading! Kein Band, aus dem nicht schweinische Kupfer quollen…“

Lord P*** (sich fassend, das Empfehlungsschreiben studierend): „Hier wird gearbeitet, Piepenhausen, ernsthaft gearrrbeitet!“

Bibliothekar (in halber Haltung): „Griepenhausen, Mylord…“

Lord P*** (erhebt sich aus dem Sessel): „Wis-sen-schaft-lich gearbeitet, Griepenhausen! Das heißt: Morgens bis Mittags: Auktionskataloge lesen, unlimitierte Gebote abgeben, Mittags bis Nachmittags: Kataloge der Kollegen lesen, kaufen, was zu bekommen ist; Nachmittags bis Abends: Das Internet durchschnüffeln, kaufen, Suchlisten erstellen, dringende Kaufgesuche verschicken usw…“

Bibliothekar (zu sich): „Der Erwerb scheint eine gewisse Rolle zu spielen…“

Lord P***: „Seine Aufgabe ist es unter anderem, Lücken im wachsenden Bestand auszumachen, denn je größer der Bestand, desto größer auch die Fehlstellen! Unser Ziel: Eine möglichst lückenlose Sammlung von… na ja, so ziemlich Vielem! Gemäß unserem bibliophilen Wahlspruch: Was Du nicht erbtest von den Vätern, erwirb es, um es zu besitzen!

Bibliothekar (bass erstaunt): „Denn man toú!“


Vorhang.


Vorhang auf: Einige Wochen später. Lord P*** im Hausmantel inmitten eines Berges reizend gebundener Bücher verschiedenster Formate und ungeöffneter Pakete, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Der Bibliothekar mit Bleistift hinter dem Ohr und einer langen Liste.


Bibliothekar: „…bei Reitz & Sohn alle gewünschten Titel bekommen, bei Hauspedell ebenso… Der Antiquar Bröcklein aus Berlin fragt an, ob Mylord die Erstausgabe der „Grönländischen Processe“ haben möchten… zwei schöne Halblederbände, zusammen äh…“ (er erbleicht) „pro Band 5000 Euro?!“

Lord P*** (gelangweilt): „Ja, ha, ha! Die muß er schon haben für ein gutes Exemplar! Wird er teuer bei Zischka & Sauer gesteigert haben! Fortgefahren!“

Bibliothekar: „Bei Örling in Hamburg wird ein kompletter Martini: Conchylienbelustigungen, in 12 Bänden ausgerufen, Schätzpreis 24.000 Euro…“

Lord P*** (erregt): „Ein Desiderat ersten Ranges! Mein Exemplar ist an den Vorsätzen ja leimschattig, gehört dringend ersetzt! Dann aber gleich den Schröter dazu: Conchylienkenntnis nach Linné, und achte Er auf unbegrenzte Gebotshöhe!“

Bibliothekar: „Und, äh ja, Herbert Tenischert lässt mitteilen, dass der Katalog Beleuchtetes Rokokozeitalter komplett leider nicht mehr verfügbar ist; ein Buch sei bereits vor Mylords Bestellung verkauft worden, er habe auch noch andere Kunden…“

Lord P***: „Jaja, der macht immer wieder Schwierigkeiten… Andere Kunden: lächerlich!“

Bibliothekar: „Ein Antiquariat Püller aus Motsdam hat ungefragt ein großes Paket mit all seinen Büchern geschickt, zusammen 124 Stück… mehr habe er nicht!“

Lord P***: „Glaub’s sogar! Ist etwas ächt Physikotheologisches dabei?“

Bibliothekar: „Nur Cuno’s Ode an seinen Garten…“

Lord P***: „Dann zieh Er 30% Rabatt und 3% Skonto und bemüh Er sich, Jonathan Hill ans Telefon zu bekommen! Ich will meinen Whiston freikaufen.“


Auf die Bühne tanzen von links und rechts bunt gekleidete Harlekine, Buffoni und andere niedrigkomische Gestalten, die aufgefächerte Geldbündel in die Luft werfen und sich in einem choreographisch mehrlagigen Durcheinander im Geldregen drehen und dabei singen:


„Ja, das Geld spielt keine Rolle!

Heissa-hopp! Das ist das Tolle!

Alles was Mylord nur will

Kauft er heimlich sich und still!“


Lord P*** tritt behäbig in den Vordergrund, ein paar Geldscheine in der Hand, und singt:


„An Papier, das nicht gebunden,

kann ich leider nicht gesunden!

Zu viel Nullen… Nein, ich spucke

Gern auf solche Einblattdrucke!“


Der Bibliothekar klaubt verzweifelt einige Scheine vom Boden auf und singt:


„Warte, warte, nur ein Weilchen

dann holt die Wirklichkeit Dich ein

Und aus Deinem schlimmen Elend

Schreist Du dann nach jedem Schein!“


Ein dämonisches Pfeifen und Heulen, wie von einem großen Sturm, erhebt sich. Das Licht beginnt zu flackern, Fenster klappen auf und zu, die schweren Vorhänge wehen durch den Raum. Innerhalb kürzester Zeit verwandelt sich das Zimmer in ein gespenstisches Chaos.


Vorhang.


Als nächstes Geräusch hört man das penetrante Dauerklingeln eines modernen Mobiltelefons. Vorhang auf. Ein heruntergekommenes, lagerartiges Zimmer im Souterrain, kleines Oberlicht, Neonlampe. Auf dem Boden liegen Pappbecher und Fastfood-Verpackungen herum, ferner eine löcherige Matratze. Aus der speckigen Bettdecke kommt eine Hand hervor, tastet nach dem Telefon und zieht es mit sich unter das Kopfkissen. Ein menschliches Wesen ist nicht zu erkennen.


„Hallo? Hallo? Ja, äh…. Nein, hier ist nicht die Plattform Buchschlucker… Doch, ich bin der, der Ihnen das Taschenbuch von Agatha Christie geschickt hat… Bei Buchschlucker bieten mehrere Kollegen an, das ist nämlich… Ja, schon… Aber für vier Euro… So hören Sie doch! Ich kann doch für vier Euro nicht auch noch… Zurückschicken? Das steht Ihnen natürlich jederzeit frei… Wenn Sie dann freundlicherweise das Porto für die Büchersendung… Hören sie? Hallo?“


Das Gespräch wird leiser. Dann Vorhang.

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